Dankbar annehmen und weitergeben
4. Oktober 1992
Erntedank
2. Korinther 9,6-15
Danken kann eine Medizin sein. Danken kann uns gesund machen. Es kann uns heilen von der Selbstüberschätzung und von der Selbstunterschätzung. Und es kann uns heilen von der Selbstsucht. Wenn das Danken vorbeugend eingesetzt wird, kann es uns vor diesen Krankheiten bewahren.
Es gibt den einen oder anderen, der sagt: „Was ich habe, das habe ich mir selbst erarbeitet. Was ich bin, das habe ich selbst aus mir gemacht. Was ich kann, das habe ich selbst erlernt.“
Wer das sagt, der ist vom Virus der Selbstüberschätzung befallen und der ist anfällig für Folgekrankheiten als da wären z. B. Resignation, Verzweiflung und Zynismus.
Denn was wir haben, das ist eben nicht nur das Ergebnis unseres eigenen Bemühens. Die Früchte des Feldes sind nur zu einem geringen Teil das Ergebnis unseres eigenen Einsatzes. Der Bauer hat gepflügt, gesät, gedüngt, Unkraut verhindert und hat noch ein wenig mehr getan, was zugegebenermaßen alles mit Arbeit, mit körperlicher und geistiger Arbeit, verbunden war. Aber bevor der Bauer sich überhaupt an die Arbeit machen konnte, war der Erdboden da, war die Sonne da, war der Regen da, war die Frucht da, um deren Vermehrung er sich bemüht. Und er selbst war da mit seinem Interesse an der Landwirtschaft und seinen Fähigkeiten.
Wir können uns nur an die Arbeit machen, wenn uns schon vieles vorgegeben ist. Und unsere Arbeit wird nur Erfolg haben, wenn die unverfügbaren Umstände günstig sind, wenn, wie man sagt, das Wetter mitspielt, wenn wir gesund bleiben, wenn uns kein Unglück ereilt, wenn die politische Lage ruhig bleibt.
Wenn der Bauer am Ende eine gute Ernte einfahren kann, dann kann er sich zwar auch selbst auf die Schulter klopfen, aber zunächst und vor allem kann er mit Staunen und Dankbarkeit feststellen, dass seine Arbeit von Erfolg gekrönt war, dass sich sein Einsatz gelohnt hat, wo es doch auch ganz anders hätte kommen können.
Das ist der erste Sinn des Erntedankgottesdienstes, dass wir demjenigen unseren Dank sagen, der alles Leben erschaffen hat, von dem auch wir unser Leben empfangen haben, der alles wachsen und gedeihen lässt.
Wer diesen Urheber des Lebens, diese Quelle und Kraft des Lebens nicht mit im Blick hat, wer nur seinen eigenen Einsatz sieht, der wird sich dann selbst an seinen Erfolgen und Misserfolgen messen lassen müssen, der hat dann, wenn es schlecht ausgegangen ist, nicht nur einen Misserfolg gehabt, der hat sich - nach seinen eigenen Maßstäben - selbst als Versager erwiesen. Das ist dann die verzweifelte Lage, in die hineingerät, wer sich selbst überschätzt.
So, wie wir unsere Erfolge nicht nur uns selbst, sondern auch und in erster Linie Gott zu verdanken haben, so müssen wir - bitte missverstehen Sie das nicht - auch unsere Misserfolge nicht nur uns selbst zurechnen. Wir dürfen sie Gott anlasten, ihm aufbürden - im Sinne des biblischen Spruches: „All eure Sorgen werft auf ihn.“ Jesus Christus hat in göttlichem Auftrag alles menschliche Versagen auf sich genommen, und er nimmt es weiter auf sich. Das ist die heilsame, die heilende Konsequenz des Dankens: Wer seine Erfolge als Geschenke aus der Hand Gottes entgegennimmt und sagt: „Dank sei dir, o Gott, für alle deine Gaben“, der darf auch seine Misserfolge in die Hand Gottes zurücklegen und sagen: „Gott, nimm von mir diese Last.“
Wer dankt, bekennt seine Grenzen und entlastet sich von der erdrückenden Vorstellung, alles selbst tragen zu müssen.
Die Haltung des Dankens ist heilsam auch für denjenigen, der sich selbst unterschätzt. Wer sich auf die Vorstellung eingelassen hat, dass er sein Leben, seine Lebenskraft, seine Gaben, seine Fähigkeiten, sein Ergehen Gott verdankt, der hat auch dann noch eine Hoffnung, wenn er sich selbst am Ende sieht. Der wird darauf vertrauen dürfen, dass ihm in der scheinbar ausweglosen Lage Kräfte zuwachsen, dass sich verschlossene Türen doch noch öffnen, dass der Weg weiterführt, wo wir meinen, in einer Sackgasse zu sein.
Die Haltung des Dankens kann uns auch vor den unheilvollen Konsequenzen der Selbstsucht bewahren. Wer dankt, wendet sich an den Geber. Wer es mit seinem Dank ernst meint, der wird seine Dankbarkeit so zum Ausdruck bringen, wie dies den Geber wohl erfreuen könnte.
Was aber würde wohl Gott erfreuen? Wie können wir ihm so danken, dass er unseren Dank gern entgegennimmt? Hierauf können wir wohl folgendes antworten: Wenn wir weitergeben, was wir von ihm empfangen haben, dann wird es gut sein; wenn wir uns seine Haltung zu eigen machen und sein Werk an uns durch unser Handeln an anderen fortsetzen, dann wird dies in seinem Sinne sein. In unserem Predigttext heißt es: „Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb.“ Gott hat uns gegeben. Nun ist es an uns weiterzugeben. Das wäre die schönste Form unseres Dankes.
Es gibt eine Form des Dankes, die eine Verdrehung des Dankes ist. Sie anschaulich in der biblischen Szene vom Pharisäer und Zöllner beschrieben. Die beiden gehen in den Tempel, um zu beten. Der Pharisäer betet: „O Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin wie die übrigen Menschen, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner.“ Das wäre ein unheilvolles Danken, wenn wir in diesem Sinne beten würden: „Gott, wir danken dir, dass du uns reich beschenkt hast mit vielen guten Gaben und uns nicht in Armut leben lässt wie so viele andere Menschen in der Welt.“
Unsere Dankbarkeit darf nicht in der Freude darüber bestehen, dass es uns besser geht als anderen. Wir dürfen und sollen uns darüber freuen, dass es uns gut geht. Für unser Wohlergehen können und sollen wir Gott Dank sagen. Aber mit Blick auf die anderen kann und darf unsere Dankbarkeit nur im Mitleiden und im Teilen bestehen.
Wenn wir uns heute dessen bewusst werden, dass wir ausreichend zu essen und zu trinken haben, haben wir Grund zur Freude und Grund, Gott dafür zu danken. Wenn wir uns aber zugleich dessen bewusst werden, wie viele Menschen auf der Erde hungert und dürstet, wie viele Menschen in diesem Augenblick an Hunger und Durst sterben, dann haben wir Grund zu fragen: „Womit, Gott, haben wir es verdient, dass du uns schenkst, was andere entbehren müssen?“ Da die Antwort auf diese Frage für uns ein Geheimnis bleiben wird, kann unsere eigene vorläufige angemessene Antwort nur das Anteilnehmen und das Teilen sein.
Gott hat uns nicht beschenkt, damit wir seine Gaben wie einen Raub für uns behalten. Er hat uns beschenkt, damit wir davon weitergeben. Er hat uns das Leben gegeben, nicht nur, damit wir selbst leben, sondern damit wir auch anderen Leben schenken. Er hat uns mit Fähigkeiten ausgestattet, nicht nur damit wir selbst etwas können, sondern auch damit wir andere befähigen. Gott will, dass wir sein Liebeswerk fortsetzen. Er nimmt uns für seine Sache in Anspruch. Seine Gaben an uns enthalten zugleich die Aufgabe für uns, uns anderen wohlwollend und wohltuend zuzuwenden.
Der reiche Kornbauer, der seine übergroße Ernte für sich selbst hortet, ist kein Mann Gottes. Eine Gesellschaft, die ihren Wohlstand für sich selbst zu sichern sucht, kann nicht mit dem Wohlgefallen Gottes rechnen. Nicht darauf darf sich unser ganzes Nachdenken konzentrieren, wie wir schützen können, was wir besitzen. Unsere Intelligenz und Phantasie sollen wir vielmehr auf die Frage lenken: „Wie können wir auch anderen zu dem verhelfen, was für uns zur täglichen Selbstverständlichkeit geworden ist?“
Geben macht nicht arm, sondern reich. Wer kärglich sät, wird auch kärglich ernten. Wer reichen Segen sät, wird auch reichlich ernten. Unsere Gaben sind Saatgut. Sie wollen ausgesät werden, damit sie weiter Frucht bringen.
Erntedankfest, das ist mehr als ein Fest der Landwirtschaft. Es ist ein Fest der Ernte unseres Lebens überhaupt. Wir sollen die Früchte genießen, das, was wir selbst schwer erarbeitet haben, und das, was uns zugefallen ist. Wir sollen und dürfen genießen, aber wir sollen auch investieren. Das gilt für alle Bereiche unseres Lebens. Danken - recht verstanden - ist wie eine Medizin. Unsere menschliche Gemeinschaft ist nicht gesund. Der weltweite Leib der Menschheit - wie alle einzelnen Teile des Leibes - verlangt nach Heilung. Die Heilung kann mit dem Danken beginnen - mit der Erinnerung an das Gute, das wir empfangen haben, und mit dem Tun des Guten aus Dankbarkeit.
(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 4. Oktober 1992)